Über eine Distanz von mehr als einem Kilometer sind die Steine im Bachbett der Ova Lavirun, ein Bergbach in einem abgelegenen Seitental im Engadin, weiss gefärbt. Wie diese Färbung zu Stande kommt, haben Forschende um Christoph Wanner vom Institut für Geologie der Universität Bern untersucht, und die Resultate 2018 veröffentlicht. In der Publikation von damals wiesen die Forschenden nach, dass sich die Steine verfärben, weil sich auf ihnen weisse Flocken aus Aluminiumsulfat ablagern. Dieses Phänomen wurde bereits vor Jahrzehnten aufgrund von Laboruntersuchungen vorausgesagt. Trotz intensiver Suche konnten Forschende ein Auftreten in der Schweiz aber nie finden – bis ein Jäger auf ebendiesen weissen Bach im Val Lavirun aufmerksam machte.
In einem Video zeigen die Forschenden nun für die breite Öffentlichkeit einzigartige Bewegtbilder der Ova Lavirun und erklären verständlich, wie die Steine zu ihrer schneeweissen Farbe kommen. Aufgrund von Medienberichten zum weissen Bergbach im Engadin erhielt Christoph Wanner mittlerweile viele Meldungen aus der Bevölkerung über weitere Standorte, an denen das Phänomen ebenfalls auftritt.
Geochemische Forschung im Hochgebirge
Im knapp neunminütigen Video präsentieren Christoph Wanner und sein Kollege Gerhard Furrer von der ETH Zürich, Mitautor der Studie von 2018, Forschungsresultate dort, wo die analysierten Proben genommen wurden. Die Erklärungen der Forschenden wechseln sich ab mit wunderschönen Bildern der alpinen Landschaft des Engadins auf einer Höhe von bis zu 2'800 Meter über Meer. «Die Idee zum Video hatte Gerhard Furrer. Er wollte zu seiner Pensionierung etwas Spezielles machen, und die Information einer breiten Öffentlichkeit über umweltnaturwissenschaftliche Themen liegt ihm sehr am Herzen. Ich war von der Idee sofort begeistert», sagt Christoph Wanner. Das Phänomen sei zudem ideal für die Illustration von geochemischen Prozessen in der Natur.
Drei entscheidende «Zutaten» für den weissen Bergbach
Die im Video erklärte Entstehung der weissen Färbung beginnt ganz oben, bei der Quelle des Bachs. Dort kommt im Gestein unter anderem das Mineral Pyrit vor. «Wenn dieses Mineral mit Wasser in Kontakt kommt, entsteht Schwefelsäure, die den pH-Wert des Wassers stark absenkt», erklärt Christoph Wanner. Das saure Wasser löst dann in einem nächsten Schritt Aluminium aus dem Gestein.
Um eine hohe Anreicherung mit Aluminium zu erreichen, spielt ein zweiter Faktor eine wichtige Rolle: Die Fliessgeschwindigkeit des Wassers. Die Quelle der Ova Lavirun liegt in einem Permafrostgebiet und das Gelände ist relativ flach. Deshalb bewegt sich das Wasser dort nur langsam durch den Untergrund – genug Zeit also, damit viel Säure produziert und Aluminium aus dem Gestein gelöst wird. Das mit Aluminium angereicherte Wasser fliesst schliesslich in der Ova Lavirun talwärts.
Es folgt die letzte entscheidende «Zutat» für das weisse Bachbett. Das Wasser vermischt sich mit anderen Bergbächen, die nicht durch Pyrit beeinflusst sind. Christoph Wanner: «Dadurch erhöht sich der pH-Wert wieder, und weil die Löslichkeit des Aluminiums mit steigendem pH-Wert abnimmt, kommt es zur sogenannten ‘Ausfällung’». Es bilden sich dabei Aluminiumsulfat-Flocken, die die Steine des Bachbetts mit einer weissen Schicht überziehen.
Spontane «Citizen Science»
Zahlreiche Medien in der Schweiz, Deutschland und Österreich berichteten im Jahr 2018 über die Forschungsergebnisse zum weissen Bergbach. «Daraufhin erhielt ich über 20 E-Mails von interessierten Leserinnen und Lesern mit detaillierten Hinweisen zu insgesamt sieben anderen Standorten, an denen sie das Phänomen ebenfalls beobachtet hatten», so Wanner. Fünf davon befinden sich auch im Kanton Graubünden, die anderen in den italienischen und österreichischen Alpen. «Speziell daran war, dass sich so viele Personen meldeten, obwohl wir nicht explizit dazu aufgerufen hatten. Man kann somit von spontaner ‘Citizen Science’ sprechen», sagt Wanner. «Mit der Publikation des Videos erhoffen wir uns weitere Hinweise über das Auftreten des Phänomens in den Alpen. Aber wir möchten auch einfach interessierte Leute ermuntern, besondere Naturphänomene wahrzunehmen»
Meldungen aus der Bevölkerung bereits aufgenommen
Wanner hat die Meldungen aus der Bevölkerung bereits aufgenommen: «Im Sommer 2019 haben wir Proben von drei Standorten im Kanton Graubünden genommen und gesehen, dass es sich dabei tatsächlich um das gleiche Phänomen wie im Engadiner Val Lavirun handelt», sagt Wanner. Für diesen Sommer sei zudem eine Probenahme der restlichen Standorte in der Schweiz geplant, und die Standorte in Norditalien und Österreich sollen im nächsten Jahr untersucht werden.
Da es für die Entstehung des Phänomens Säure braucht, sei es für die Umwelt zwar potenziell problematisch, aber: «Die bisher untersuchten Standorte befinden sich alle in abgelegenen, hochalpinen Seitentälern. Das Bachwasser wird nicht für die Trinkwasserversorgung gebraucht und die erhöhten Werte werden durch zufliessende Bäche verdünnt und so wieder in einen normalen Bereich gebracht», erklärt Christoph Wanner. «Mit der systematischen Untersuchung aller gemeldeten Standorte und ergänzenden Laborversuchen möchten wir aber eine bessere Prognose der zukünftigen Wasserqualität in den betroffenen Gebieten machen können – vor allem im Hinblick auf das weitere Auftauen von Permafrost», so Wanner.